Mäuse für die Freiheit
Daniel Hope
Toi, toi, toi!: Pannen und Katastrophen in der Musik
Es gibt freilich auch ganz andere Motive, wenn Tiere mit Musik in Verbindung gebracht werden. Von einem solchen Fall erzählte mir Boris Kuschnir, der aus Kiew stammende Geiger und heute in Österreich lebende Violin-Professor, dessen Schüler äußerst erfolgreich sind.
Im April 1975 gastierte er zusammen mit seinem Moskauer Streichquartett in Paris, hauptsächlich, um das dortige Publikum mit der neueren Kammermusik von Dmitri Schostakowitsch bekannt zu machen, den er seit langem gut kannte und dessen Leben vier Monate später enden sollte.
Mitgebracht an die Seine hatten er und seine drei Kollegen das fünf Jahre zuvor entstandene Streichquartett Nr. 13 des Komponisten, der wie durch ein Wunder alle Anfeindungen während der Stalin-Ära überstanden hatte und mittlerweile in der damals noch existierenden Sowjetunion wohlgelitten war, was man schon daran erkennen konnte, dass der Moskauer Kulturattache zu dem Konzert erschienen war.
Die Musiker waren etwa in der Mitte des Werkes angelangt, als das Publikum an einer leisen Stelle plötzlich durch einen lauten Knall aufgeschreckt wurde. „Es klang so“, erinnert sich Kuschnir, „als hätte jemand eine Pistole abgefeuert.“ Unmittelbar danach sah er eine weiße Rauchwolke im Saal aufsteigen, und irgendjemand rief: „Freiheit für die russischen Juden!“
Die Weigerung des Kreml, ausreisewilligen Juden das Verlassen der Sowjetunion zu erlauben, sorgte damals immer wieder für Schlagzeilen, nicht zuletzt durch das unerschrockene Auftreten des Dissidenten Nathan Sharansky. Und nicht nur das: Wiederholt wurden russische Gastspiele in Paris zur Zielscheibe von Störaktionen, mit denen Sharansky-Anhänger auf die Nöte der russischen Juden aufmerksam machen wollten. Einer Ballett-Truppe aus Moskau hatten Unbekannte Reißzwecken auf die Bühne geworfen, sodass mehrere Tänzer empfindlich verletzt wurden, und der Geiger Vladimir Spivakov war mitten im Konzert von einem roten Farbbeutel getroffen worden.
Kuschnir kannte den Vorfall und wusste, dass Spivakov, obwohl ihm die rote Farbe über das Gesicht rann und auf seine Geige tropfte, tapfer bis zum Ende durchgehalten hatte. Das mag ihn ermutigt haben, ebenfalls Nervenstärke zu beweisen. Also spielte er weiter, und seine drei Mitstreiter taten es genauso, auch wenn sie im Ungewissen waren, was eigentlich passiert war. Hatte tatsächlich jemand geschossen, und wenn ja, wer war das Opfer? Außerdem hatten sie Angst, dass die nächsten Schüsse womöglich ihnen gelten würden.
Die Situation im Saal drohte zu eskalieren. Nicht nur, dass sich der weiße Qualm immer weiter ausbreitete und zahlreiche Besucher eiligst das Weite gesucht hatten, inzwischen war offensichtlich auch die zweite Stufe der Attacke gestartet: Aus zahlreichen Schachteln im Parkett wie auf der Bühne krochen Dutzende von weißen Mäusen. „Sie krabbelten überall“, erzählt Kuschnir, „sogar auf meinen Schuhen haben sie gesessen. Aber wir haben immer weitergespielt.“
Sie spielten auch noch, als der sowjetische Kulturattache und der im Publikum befindliche Michel Schwalbé, damals Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, auf die Bühne hasteten, um sie gegen mögliche Angreifer zu verteidigen. Und sie spielten selbst dann noch, als ein Feuerwehrmann mit Fackel erschien, um die Mäuse zu vertreiben, und die geflohenen Zuhörer leise zurückkehrten und ihre Plätze wieder einnahmen.
Sie spielten bis zum letzten Takt, bis sie den verdienten Beifall entgegennehmen konnten. Das Konzert war gerettet, die Katastrophe vermieden worden.
Wieder zurück in der Heimat, wurden die Quartettmitglieder wie Helden gefeiert.