Interdisziplinäres Roundtablegespräch

Mit Sibylle Cada, Ilona Funke,
Boris Kuschnir und Anthony Maher
Andreas Dorschel (Moderation)

Ein Ausschnitt aus dem Gespräch mit Andreas Dorschel, zu finden im von Silke Kruse-Weber herausgegebenen Buch „Exzellenz durch den differenzierten Umgang mit Fehler: Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten.“

Andreas Dorschel: Ich möchte nun spezifisch den Juror Boris Kuschnir ansprechen. Was immer wir von Fehlern in der Musik halten, ein Wettbewerb scheint fUr einen Teilnehmer die musikalische Situation schlechthin zu sein, in der man besser keinen Fehler macht. Denn eine Jury, vermuten wir, horcht auf Fehler und Jury-Entscheidungen fallen durch Hinweise auf Fehler. Wie reden Jurys internationaler Wettbewerbe über Fehler? Ist es eine gute Strategie für einen Wettbewerbsteilnehmer, nur ja nichts falsch zu machen? Soll er sich vornehmen, Fehlervermeidung zu betreiben? Zieht eine Jury maglieherweise eine riskante, aber entschiedene und interessante Interpretation einer in jeder Hinsicht abgesicherten, vorsichtigen Interpretation vor? Können Sie vielleicht Beispiele nennen, etwa von Wettbewerbssiegern?

Boris Kuschnir: Das ist ein sehr interessantes Thema: in den letzten Jahren war ich bei einigen der größten Wettbewerbe der Welt in der Jury und kann daher beurteilen, was dort passiert und wie manche der Juroren denken und ihr Urteil fällen.

Aus meiner Sicht verlieren viele Violinwettbewerbe an Wert. Wenn ich meine Kollegin oder meinen Kollegen nach den Gewinnern der letzten Wettbewerbe frage, so weiß sie oder er oftmals nicht Bescheid. Natürlich kennt man ein paar der Gewinner, die in der Welt musizieren, und auch, wer Karriere macht – die ersten Preise der Wettbewerbe verlieren jedoch oftmals ihren früheren Stellenwert. Warum? Es gibt viele Gründe, einer der wichtigsten ist jedoch sicherlich der Umgang mit Fehlern. Viele Bewerber versuchen zuallererst, ohne Fehler zu spielen, viele können es auch.

Diese Art des Spiels ist dann jedoch wie computerisiert, digitalisiert. Die Musik klingt so, als würde man eine geschnittene Aufnahme anhören. Sie spielen ohne Fehler, zugleich aber leider auch oft ohne Persönlichkeit, besonderen Klang und Charakter. Nach zwei, drei Minuten wird das Spiel dann uninteressant und als Folge vergessen die Jury und das Publikum was und von wem sie es gehört haben. Mit diesem Ziel zum Wettbewerb zu kommen, ist damit schon der erste Fehler.

Ein anderer Fehler: Es gibt junge Musiker, die sehr gut gespielt haben, aber dann einen Fehler machen und denken, es wäre ein Weltuntergang. Ich erinnere mich dabei an das Beispiel einer Koreanerin bei einern Wettbewerb, eine sehr gute Geigerin. Sie hat ein Beethoven-Konzert mit dem Orchester gespielt und plötzltch passterte ihr etne sehr falsche Note. Gut, das kann passieren. Diese falsche Note hat das Spiel des Mädchens jedoch total „kaputt“ gemacht, in der Folge hat sie leider sehr unsicher gespielt. Sie bekam dann leider keinen Preis und eine schlechte Wertung. Schade, denn wenn sie gedacht hätte, der Fehler wäre bloß eine Kleinigkeit, wäre das wohl kaum ins Gewicht gefallen …

Ein kleiner Fehler von einer Millisekunde gab mir einmal das Gefühl, ich hätte das halbe Stück falsch gespielt. Mit 21 Jahren habe ich bei einem der größten Wettbewerbe in Russland, dem
All-Union-Wettbewerb in St. Petersburg, ebenfalls das Beethoven-Konzert gespielt. Im Finale sollte ich eine Kadenz spielen, welche auf zwei Seiten notiert ist. Die erste Seite konnte ich immer gut, die zweite, technisch sehr schwer, hatte ich oftmals nicht so gut gespielt. Beim Wettbewerb selbst unterlief mir ein kleiner Gedächtnisfehler und in der Folge und Panik habe ich
einige Stellen der ersten Seite übersprungen. In der Aufregung spielte ich die zweite Seite dann aber virtuos und sehr effektvoll. Glücklicherweise hat mir hier der Fehler auf der ersten Seite geholfen, mich anzustacheln. Die Jury war begeistert, ich gewann damals den dritten Preis!

Naja, das waren Fehler von Künstler, aber auch Jurymitglieder machen Fehler. Oft sitzt man mit zehn bis 15 Leuten in der Jury, ein Bewerber macht einen Fehler und sofort kommt Bewegung in die Mitglieder der Jury. Alle beginnen zu schreiben. Aber sobald jemand eine schöne Phrasierung spielt oder einfach wunderschöne Musik macht, sitzen viele ohne Bewegung da. Ich persönlich
notiere immer beides, damit ich später vergleichen kann. Dieses Verhalten mancher Jury-Mitglieder finde ich recht einseitig.

Aber warum verlieren diese Wettbewerbe nun an Wert? Die Jury-Mitglieder bewerten lediglich die Fehler! Aus Angst vor Fehlern spielen viele Musiker bei Wettbewerben ohne Risiko und konzentrieren sich nur auf die Vermeidung von Fehlern. Wenn ein Musiker jedoch etwas vergisst oder einen kleinen Fehler macht, ist er oftmals sofort vom Wettbewerb weg, egal wie gut er vorher gespielt hat. Dadurch verlieren wir leider durchaus auch talentierte Musiker.

Ich war mit dem Moskauer Streichquartett, mit dem ich viele Jahre gespielt habe, oftmals bei Dmitri Schostakowitsch zu Hause. Er hat uns bei der Vorbereitung seines 13. Quartetts für die
Teilnahme an internationalen Wettbewerben geholfen. Beim ersten Probendurchgang sagte er: „Warum spielen Sie es so schnell?“. Auf meinen Einwand, er selbst habe doch diese Tempoangabe geschrieben, sagte er: „Mein Fehler.“ Das Notenmaterial war noch nicht gedruckt, also hat er das Tempo noch einmal handschriftlich geändert. Ich habe so gelernt, dass auch großen Musikern Fehler unterlaufen können. Zugleich aber muss ein Fehler nicht immer ein großes Problem sein und lässt sich oft auch sehr einfach korrigieren.

Andreas Dorschel: Ich wünsche für die nächste Runde, dass Sie jetzt miteinander ins Gespräch kommen, und ich möchte dazu einen Punkt aufgreifen, der in all ihren Statements eine Rolle gespielt hat.

Sie haben es als Hierarchie bezeichnet – man kann auch von Macht sprechen. Fehler sind ja nicht etwas, das es einfach gibt auf der Weit. Fehler sind vielmehr charakteristisch für eine bestimmte Konstellation im Gesprächsverhältnis. Es gibt Bewerter und Bewertete. Es gibt Lehrer und Schüler, es gibt CEOs und Mitarbeiter, es gibt Juroren und Wettbewerbsteilnehmer und so weiter. Üblicherweise wird vorausgesetzt, dass diejenigen, die Fehler machen, die Wettbewerbsteilnehmer, Mitarbeiter, Schüler sind; die andere Seite wird normalerweise nicht bewertet. Dieses Verhältnis können und wollen wir wohl auch nicht aus der Welt schaffen, da es beispielsweise durch erworbene Qualifikationen begründet sein kann. Und es ist vermutlich auch keine Antwort. Wenn wir etwa eine „Kuschelpädagogik“ einführen und nur noch Nettes im Unterricht äußern.

Es gibt nun aber das Phänomen, welches Anthony Maher angesprochen hat: Dass man einen Fehler macht und im Zuge dessen etwas Neues entdeckt. Sie, Herr Maher, haben von einer Selbstkorrektur gesprochen: An einem Mitarbeiter haben Sie etwas entdeckt, von dem Sie nie geglaubt hätten, dass es in ihm stecke. Die Frage ist also: Wie gehen wir im Zusammenhang mit Fehlern mit Hierarchien, mit Macht um? Anthony Maher: Es gibt kein Kuschelgespräch mit einem CEO. Ein CEO ist normalerweise ein Alpha-Mensch, der sehr viel Verantwortung und sehr viel Stress hat, und er muss an sich selbst glauben. Wichtig ist, ein Verhältnis auf der Basis von Respekt und Direktheit zu schaffen. Nicht kuscheln, nicht Dinge vertuschen, und man muss von Mensch zu Mensch reden mit der Absicht, das Problem so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Manchmal können CEOs aber auch sehr dünnhäutig sein, sie sind Primadonnas und man muss mit ihnen umgehen können.
Man muss der Primadonna genügend Tanzfläche geben, aber man muss auch zeigen, dass es Grenzen gibt. Die Balance zwischen Respekt und Direktheit zu finden, ist eine Herausforderung.

Das bringt mich zu einem Aspekt, den Herr Professor Kuschnir angesprochen hat: Fehler bei einem Wettbewerb gehen schnell wieder vorbei, und man erlaubt dem Fehler nicht, den Rest des Ablaufs zu definieren. Wir suchen auch im Management Leute, die Fehler verkraften können, das ist sehr wichtig. Erst durch die gemeinsame respektvolle Auseinandersetzung wird dies gelernt.

[an Herrn Kuschnir]: Wie macht man das in der Musikpädagogik? Warum sind Sie so geworden? Sie haben einen Fehler gemacht, aber trotzdem haben Sie den Fehler mit Energie ausgenutzt. Haben Sie das von jemandem gelernt? Hat Ihnen jemand die Kraft dazu gegeben oder steckt das einfach in Ihrer DNA?

Boris Kuschnir: Natürlich habe ich vieles gelernt und in kritischen Momenten konnte ich damit richtig reagieren. Ich habe viele solcher Fälle erlebt, und meine Intuition und meine Erfahrung gaben mir oft die richtige Antwort.

Boris Kuschnir: Auch pädagogische Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig. Der Lehrer muss wissen, dass er den Schüler oder die Schülerin nicht auf alle Fehler gleichzeitig aufmerksam machen kann. Wenn ich sehr viele Fehler im Unterricht sehe und ich kritisiere sie alle gleichzeitig, dann kann der- oder diejenige plötzlich überhaupt nicht mehr spielen. Ich muss differenzieren und gut überlegen, was ich sage und was nicht. Gibt es Fehler, wo man mit starker Hand führen muss? Ich hätte dazu ein interessantes Beispiel: Nikolaj Znaider hat vor etlichen Jahren den weltgrößten Violin-Wettbewerb in Brüssel gewonnen. Bei der Vorbereitung der Paganini-Capricen hat er immer denselben Fehler gemacht: Sobald er an einer schwierigen Stelle seinen Kopf in eine leicht verdrehte, falsche Haltung bewegte, unterliefen ihm immer Fehler. Sehr bald habe ich diesen Ablauf bemerkt. Ohne die Kopfbewegung war sein Spiel technisch perfekt. Noch knapp vor seinem Auftritt beim Wettbewerb dachte ich, dass er immer wieder in die falsche Haltung zurückfallen würde. Für ihn mag das bequem gewesen sein, aber es war dennoch falsch.

Dann jedoch habe ich eine Idee gehabt und ihm gesagt: Wenn du dann auf die Bühne kommst und Paganini spielst, und du hörst, dass es im Saal ein Geräusch gibt, bist du wieder in die falsche Haltung gegangen. Das Geräusch wird dir sagen, dass ich, dein Lehrer, verärgert aus dem Saal gehe, und du wirst wissen, was du falsch gemacht hast.“ Solche Experimente habe ich mit ihm gemacht. Ich habe gesehen, dass er während des Wettbewerbs immer wieder leicht in die falsche Haltung gehen wollte, aber den Kopf unterbewusst auch wieder von selbst zurückbewegt hat. Schlussendlich hat der fantastisch gespielt, vielleicht auch weil ich sehr streng mit diesem Fehler war.


Exzellenz durch den differenzierten Umgang mit Fehler: Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten.

Silke Kruse-Weber (Herausgeber)

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