Strad Magazine
Interview mit Nikolaj Znaider für Strad Magazine
Die Fragen stellte Nikolaj Znaider.
März 2008
Nikolaj Znaider: Wenn ich die Namen Leopold Auer, Carl Flesh, Ivan Galamian oder Yuri Jankelewitsch nenne, dann bedeutet das für uns alle eine gewisse Ehrfurcht – jeder von ihnen hat eine Schule repräsentiert, jeder von ihnen hat die Geigengeschichte auf seine Weise geprägt. Wie sehen Sie heute die Rolle eines großen Geigenpädagogen, der Sie ja in dieser Linie eine Fortsetzung darstellen?
Boris Kuschnir: Ein großer Lehrer muss in erster Linie ein großes pädagogisches Talent haben. Er sollte ein vielseitig ausgebildeter Mensch sein, und natürlich ein guter Psychologe. Wichtig ist, dass er die Fähigkeit besitzt, ein Talent zu erkennen und zu entwickeln. Er muss die Probleme seiner Schüler sehen – und zwar nicht nur sehen, sondern er muss diese Probleme auch sehr schnell und in der richtigen Reihenfolge lösen.
Nikolaj Znaider: Ghen wir bitte zurück. Wenn wir zum Anfang, zu Ihrem Anfang zurückgehen, was waren ihre ersten Haupteinflüsse, natürlich geigerisch, aber auch pädagogisch, menschlich, alles, was Sie jetzt genannt haben.
Boris Kuschnir: Meine allerersten und sehr wichtigen Einflüsse habe ich von meinem Vater bekommen. Er war 1. Konzertmeister im Radio Symphonie Orchester von Kiew und spielte jahrelang Streichquartett und Klaviertrio. Von ihm habe ich gelernt, wie wichtig beim Geigenspielen die Klangqualität ist! Er hat immer gesagt: Auch die kleinste Note muss singen, und die Musik muss atmen. Das alles habe ich von meinem Vater gelernt. Meine Mutter – sie war auch Geigerin – hat nach jedem meiner Auftritte die Wahrheit über mein Spiel gesagt, und schon damals habe ich gelernt, wie wichtig auch für junge Musiker eine professionelle und ehrliche Kritik ist.
Nikolaj Znaider: Ihr Vater war also Ihr erster Lehrer.
Boris Kuschnir: Ja, er war mein erster Lehrer und jemand, der mein Interesse für die Geige geweckt hat. Meine Mutter war auch Geigerin, und schon damals habe ich gelernt wie wichtig für junge Musiker eine professionelle und ehrliche Kritik ist.
Nikolaj Znaider: Da kommen wir jetzt zu ihrer weiteren Entwicklung. Sie sind dann nach Moskau gegangen …
Boris Kuschnir: Ja. Ich habe bis zum Alter von 17 Jahren in Kiew gelebt und studiert, und ich hatte sehr gute Lehrer! Das waren Veniamin Seldis und später Lasar Benderski. Sie haben mich sehr professionell und mit viel Liebe unterrichtet. Ich meine, wir sollen unsere Lehrer, wenn sie wirklich gut für uns waren, immer erwähnen und nie vergessen, sie haben das verdient!
Nikolaj Znaider: Haben Sie damals schon konzertiert?
Boris Kuschnir: Ja – und relativ oft. Ich erinnere mich, wie ich nach dem Konzert in St. Petersburg zum Konservatorium gegangen bin und dem berühmten Geiger und Pädagogen Michail Va iman vorgespielt habe, und zwar im Zimmer des legendären Leopold Auer, in seinem Unterrichtszimmer. Jahrzehnte später habe ich selbst in diesem Zimmer einen Meisterkurs gegeben …
Ja, in Moskau habe ich dann dem berühmten Lehrer Juri Jankelevitch vorgespielt. Er wollte mich in seine Klasse aufnehmen, aber da kein Platz frei war, wäre es erst ein Jahr später gegangen. Nun war es aber damals in Russland so, dass jemand, wenn er 17 oder 18 Jahre alt war und nicht weiter studiert hat, gleich zum Militärdienst musste. Ich konnte also damals nicht warten, und so habe ich bei einem anderen Lehrer vorgespielt, der dann mein ganzes Leben verändert hat: das war Prof. Boris Belenki, einer der besten Freunde von David Oistrakh, der ihm oft vor seinen Auftritten in Moskau vorgespielt hat.
Nikolaj Znaider: Oistrakh hat Belenki vorgespielt sozusagen als Kontrolle …
Boris Kuschnir: … als sein Freund, weil er hat ihm vertraut
Nikolaj Znaider: Das heisst, wir können sozusagen der Roten Armee verdanken, dass sie zu Belenki gegangen sind und nicht zu Jankelewitsch, diese wichtige Entscheidung, die letzten endes ihr Leben so positiv beeinflusst hat?
Boris Kuschnir: Ja, ich habe es nie bereut, dass ich bei Belenki war, und nicht bei Jankelewitsch. Er war damals noch nicht so ein berühmter Lehrer, aber heute hat sein Name in der Geschichte der Geigenpädagogik einen wichtigen Platz.
Nikolaj Znaider: Wie war denn Belenki’s Art zu arbeiten?
Boris Kuschnir: Er hatte einfach das Talent, wirklich millirnetergenau zu sagen, was der Schüler machen soll, um ein bestimmtes Resultat – um eine deutliche Verbesserung seines Geigenspieles zu erreichen.
Nikolaj Znaider: Und Sie haben gesagt, dass er das geschafft hat nicht durch das Behandeln von Symptomen, sondern durch das Behandeln des Problems selber.
Boris Kuschnir: Ja, er hat sofort das Problem gesehen, und nicht nur die Symptome allein, und er hat wie ein sehr guter Arzt gewusst, welche Mittel sein „Patient“ für die Lösung seiner Probleme anwenden muss, und zwar in den verschiedensten Bereichen: bei der Geigenhaltung, beim Vibrato, bei der Tongebung, bei der Bogenhaltung und Bogeneinteilung, beim Lagenwechsel, beim Bogenwechsel usw. Das sind ja alles Problembereiche, mit denen sich jeder Geiger konfrontiert sieht. Es ist wichtig fürjedenjungen Geiger, dass er so einen ,,Doktor“ findet.
Nikolaj Znaider: Und würden Sie sagen, dass Belenki ein System gehabt hat, also musste man bestimmte Etüden durchmachen, oder hat er von Schüler zu Schüler entschieden, je nachdem was der Schüler oder die Schülerin vorgestellt hat.
Boris Kuschnir: Natürlich hat er als Lehrer ein System gehabt, aber er hat dieses System sehr individuell angewendet. Ich musste z. B. viel Tonleitern üben, Doppelgriffe mit Dezimen und Fingersatzoktaven, eine ganze Reihe von Etüden, verschiedene Barocksonaten, nicht so schwere Stücke zuerst – insgesamt ein sehr gut dosiertes und gezieltes Repertoire. Erst nach ungefähr zwei Jahren hat er mir erlaubt, mehr Zeit für meine solistische und kammermusikalische Tätigkeit zu verwenden.
Nikolaj Znaider: Das ist diese Dualität, nämlich die Notwendigkeit, das Instrument zu beherrschen, gleichzeitig mit der musikalischen Entwicklung, wie man das balanciert als Lehrer, darauf kommen wir noch zurück. – Sie haben also bei Belenki praktisch zwei Jahre technisch hart gearbeitet.
Boris Kuschnir: Sehr hart gearbeitet, ja. Und nach jeder Stunde habe ich einen Brief an meine Eltern in Kiew geschrieben mit einer vollen Beschreibung, was war, was er gesagt hat, wie er es gesagt hat. Schon damals habe ich – unbewusst – jede Stunde analysiert, alles, was mir Belenki gesagt hat.
Nikolaj Znaider: Es war Ihnen also direkt ein Bedürfuis …
Boris Kuschnir: Ja. Da habe ich eigentlich eine richtige Schule geschrieben, auf grund dessen, was ich von Belenki gehört habe. Dutzende, Hunderte Details, neue Sachen, die ich vorher nie gehört hatte.
Nikolaj Znaider: Wäre es denn richtig zu sagen, dass Sie damals als Schüler schon interessiert hat, nicht nur, was zu tun sei, sondern auch wieso?
Boris Kuschnir: Wieso und wie, diese Fragen haben mich immer interessiert, und ich wollte das auch dokumentieren.
Nikolaj Znaider: Die ersten unbewussten Schritte als Lehrer, sozusagen.
Boris Kuschnir: Ja, ich habe auch zugehört und gelernt, wenn Prof. Belenki andere Studenten unterrichtet hat. So war ich zum Beispiel als Zuhörer im Unterricht von Y. Jankelevich, L. Kogan, D. Oistrach, M. Rostropovich und vielen anderen Professoren. Man konnte immer wieder in eine andere Klasse gehen und phantastische Studenten hören, die heute in den besten Konzertsälen der Welt spielen, zum Beispiel: G. Kremer, V. Spivakov, V. Tretjakov, N. Gutman, E. Leonskaja, M. Maisky, R. Lupu u.v.a.
Nikolaj Znaider: Genau, wir haben privat öfters darüber gesprochen. Aber mich interessiert das natürlich, diese „guten alten Zeiten“ in Moskau, das muss etwas ganz besonderes, eine unglaubliche gegenseitige Inspiration gewesen sein, so wie das auch in ihrer Klasse war, wenn man jemanden üben hörte, wollte man nicht der einzige sein, der nicht übt, so eine Art von positiver Konkurrenz. Können sie uns ein bisschen darüber erzählen? Wie war das mit so vielen großartigen Musikern in einer Schule zusammen zu sein?
Boris Kuschnir: Meine Studienjahre, 1966 – 1975, waren wirklich „goldene Zeiten“. Im Tschaikowsky-Konservatorium konnte ich fast jeden Tag ganz große Musiker treffen: D. Oistrach, L. Kogan, D. Schostakovich, A. Khatchaturian, S. Richter, E. Gilels, M. Rostropovich …
Mit meinem Streichquarett konnte ich sogar mit Schostakovich persönlich, bei ihm zu Hause, an seinem neu komponierten 13. Streichquartett arbeiten! Alle zwei oder drei Monate fanden irgendwelche Auswahlspiele fiir die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb statt, auf unglaublich hohem künstlerischem Niveau. Für alle Pädagogen, selbst fiir so große Künstler wie L. Kogan oder D. Oistrach oder Y. Jankelewitsch, war es wichtig, wer den nächsten großen Wettbewerb gewinnt.
Nikolaj Znaider: Und das hat vielleicht das Leben von David Oistrach oder Leonid Kogan beeinflusst, nämlich wie sich ihre Schüler bei internationalen Wettbewerben bewährt haben.
Boris Kuschnir: Ja, jeder wollte, dass sein Schüler zum Wettbewerb fährt und den ersten Preis bekommt. Auch die damalige Politik der Sowjetunion hat von den jungen Musikern verlangt, dass sie immer alle Wettbewerbe gewinnen.
Nikolaj Znaider: Würden sie sagen, war es fiir die Schüler eine positive Sache, hat es Inspiration gegeben oder war es ein Angstfaktor, wie hat es sich auf die Schüler ausgewirkt?
Boris Kuschnir: Das alles hat verschiedene Seiten gehabt. Zuerst einmal haben viele sehr gute junge Geiger die Gelegenheit bekommen, zu großen Wettbewerben zu fahren, sehr oft auch zu gewinnen und dann sofort ihre Solokarriere zu beginnen. Aber es gab auch eine schlechte Seite: Immer wieder ist es passiert, dass gute Geiger leider nicht an großen Wettbewerben teilnehmen konnten, weil der Lehrer vielleicht nicht so stark war, das durchzusetzen, oder es war auch oft so, dass jemand, der jüdischer Abstammung war, nicht zum Wettbewerb fahren durfte, da wurde also oft aus politischen Gründen die Reise abgelehnt.
Nikolaj Znaider: Kommen wir noch einmal zu Ihrer Zeit am Tschaikovksy-Konservatorium zurück. Sie hatten also das Glück, in Moskau mit vielen entscheidenden Persönlichkeiten, wie Oistrach, Schostakowitsch, Rostropowitsch, Kontakt zu haben, was Sie natürlich auch als Musiker mit geprägt hat.
Boris Kuschnir: Für mich zum Beispiel gab es einen sehr entscheidenden Moment, es war vielleicht ein Zufall – wir sprechen oft über Zufälle … Ich habe im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums gespielt, ich erinnere mich, zwei Paganini-Capricen und noch den 1. Satz des Mozart-Konzerts Nr. 4. Und im Saal war David Oistrach, der mich vorher nicht kannte. Aber plötzlich sagt er, nach dem Konzert, zu meinem Lehrer: „Wer ist das? Der gefällt mir sehr, wir müssen ihm irgendwie helfen, wir müssen ihn zum Wettbewerb schicken.“ Ich wurde dann zum Großen Sowjetunion-Wettbewerb geschickt, dort habe ich den dritten Preis gewonnen – es gab nur drei Preise für die ganze Sowjetunion. Im Finale habe ich das Beethoven-Konzert gespielt, mit den Leningrader Symphonikern unter Juri Ternirkanov, und so habe ich auch meine Solokarriere als Geiger begonnen.
Nikolaj Znaider: Kommen wir jetzt zu der Zeit nach Ihrer Ausbildung. Sie waren in Moskau, Sie haben viele Solokonzerte gegeben. Und ich weiß, Sie haben in Moskau auch Streichquartett gespielt. Wie viele Jahre waren Sie in der Sowjetunion tätig, bevor Sie in den Westen kamen, und wie kam es dazu, dass Sie die Sowjetunion verlassen konnten?
Boris Kuschnir: Ja. Gleichzeitig mit meiner solistischen Tätigkeit habe ich mich auch immer für Kammermusik interessiert. Im Jahr 1970 war ich einer der Gründer des Moskauer Streichquartetts, mit dem ich nicht nur verschiedene internationale Wettbewerbe gewonnen, sondern auch viel gelernt habe. Zu unseren Lehrern zählten auch Mitglieder des legendären Borodin-Quartetts. In dieser Zeit habe ich das Partiturlesen gelernt und mich viel mit dem Kammermusikklang und mit der Balance beschäftigt. Das alles hat mir irgendwann auch viel in meiner Arbeit als Lehrer geholfen.
Und in dieser Zeit habe ich gelernt, Feinheiten zu schätzen, Detailarbeit. Wenn ich heute junge Geiger höre, oder junge Kammermusikensembles, dann bemerke ich oft, dass bei der Interpretation etwas Wichtiges fehlt, und zwar die Detailarbeit, die Feinarbeit, entweder von der Seite des Lehrers oder von der Seite des Schülers. Oft auch von beiden Seiten. Ich denke, diese Detailarbeit, diese wichtigen ,,Kleinigkeiten“ sind es, die die Musikinterpretation noch interessanter und noch feiner machen.
Nikolaj Znaider: Das sieht man natürlich in Gesellschaften, wo der materielle Wohlstand hoch ist, dann ist das muss zur IOO%igen Hingabe weniger als in Systemen wie dem damaligen Sowjet-Regime, ich glaube das hat auch damit zu tun. Und sie hatten suzusagen das Glück im Unglück gehabt in dieser Zeit in der Sowjetunion zu leben. Das war sicherlich sehr schwer, und gleichzeitig haben sie diese Hingabe gelernt, weil das war der einzige Weg, wo man seine Kunst perfektionieren konnte.
Boris Kuschnir: Richtig, ja.
Nikolaj Znaider: Wie sind Sie dann aber von der Sowjetunion weg gekommen? Wie ist es Ihnen gelungen, war das ein Wunsch, war das ein Zufall?
Boris Kuschnir: Meine Laufbahn in Russland war irgendwie immer die gleiche: Ich habe als Solist konzertiert, ich habe mit dem Quartett Konzerte gegeben, ab und zu war ich im Ausland, aber richtig die Welt zu sehen, große Projekte zu verwirklichen – das war vielleicht damals nur ein Traum. So weiterzumachen wie bisher, war schon ein wenig langweilig für mich geworden. Und das ganze System rund um mich war jetzt anders als in meiner glücklichen Zeit. Viele große Musiker sind ausgereist aus der Sowjetunion, viele waren leider schon gestorben, das war …
Nikolaj Znaider: … eine Verarmung, sozusagen, künstlerisch gesehen
Boris Kuschnir: Ja. Kunst hat immer weniger Menschen interessiert, das war irgendwie die Zeit, wo ich erkannte, jetzt muss auch in meinem Leben etwas passieren. Und da habe ich mich entschieden zu emigrieren. Ich hatte die Möglichkeit, offIziell zu emigrieren, als Jude konnte man einen Antrag stellen.
Nikolaj Znaider: In welchem Jahr war das?
Boris Kuschnir: Das war 1980. Und 1981 bekam ich die Erlaubnis zu emigrieren. Ich bin mit meiner Familie nach Wien geflogen, das war die erste Station, wo alle Emigranten aus der Sowjetunion einen Stopp machen. Und dann sind viele Zufälle zusammen gekommen: Ich habe Zubin Mehta vorgespielt, und zwar das Brahms-Konzert. In Linz bin ich 1. Konzertmeister des Bruckner Orchesters geworden. Und ich habe begonnen, im Bruckner-Konservatorium Linz, und ein Jahr später auch im Konservatorium Wien, zu unterrichten.
Nikolaj Znaider: Wie ist es denn dazu gekommen? Haben Sie sich das gewünscht? Ist dieser Impuls, den Sie schon in der Ukraine und bei Belenki bekamen, diese Neugier zu analysieren, zu verstehen, jetzt zum Ausbruch gekommen, oder ist das reiner Zufall gewesen?
Boris Kuschnir: Wissen Sie, alles im Leben ist vielleicht Zufall- oder nicht Zufall. Sicher habe ich mir immer gewünscht, zu spielen und zu unterrichten. Darum habe ich in Wien auch sofort ein Klavier Trio gegründet, das Wiener Schubert Trio. Nur dann kam ein Zufall, der sich auf meine ganze pädagogische Laufbahn sehr glücklich ausgewirkt hat. Ich habe einen kleinen, achtjährigen Geiger gehört. Sein Name war Julian Rachlin. Als er spielte, war ich plötzlich sehr erstaunt, denn ich hörte bei seinem Spiel etwas Besonderes, vielleicht etwas Geniales Das hat nur einen Moment gedauert, vielleicht war es eine halbe Note, eine Millisekunde. Seine Familie hat mich gebeten, ihn zu unterrichten, und ich habe begonnen, langsam, sehr langsam, sein Talent, seine Genialität mehr und mehr zu kristallisieren. Unsere Arbeit war unglaublich interessant und produktiv. Als Julian 13 Jahre alt war, gewann er den Eurovisions-Wettbewerb in Amsterdam und war sofort weltbekannt. Auch beute, nach 20 Jahren, zählt er zu den allerbesten Geigern der Welt. Und darauf bin ich stolz.
Nikolaj Znaider: Also Sie hatten, als Sie nach Österreich kamen, keine Ambition, als großer Violinpädagoge zu arbeiten?
Boris Kuschnir: Ich habe nie den Ehrgeiz gehabt, ein großer Violinpädagoge zu werden. Ich glaube, wie groß ein Lehrer ist, können nur seine Schüler sagen und seine pädagogischen Erfolge. Ich wollte einfach unterrichten und den jungen Geigern helfen, und ich bin sehr glücklich, dass ich das am Konservatorium Wien Privatuniversität und an der Kunstuniversität Graz tun kann. 1999 habe ich mich um eine von zwei freien Professuren an der Musikuniversität Wien beworben, aber leider – oder glücklicherweise – nicht bekommen.
Nikolaj Znaider: Wenn wir nun darüber sprechen, wie Sie heute das Leben sehen, wonach schauen Sie, wenn zu Ihnen heute Schüler kommen? Was sind die Qualitäten oder das Potential, die Sie suchen, wenn ein junger Mensch an Sie herantritt?
Boris Kuschnir: Ich suche Talent, Begabung, etwas Besonderes. Ich erkenne das schon nach ein paar Sekunden, wenn mir jemand vorspielt.
Nikolaj Znaider: Aber es gibt doch auch Momente, das wissen wir ja, wo vielleicht im Augenblick durch verschiedene Begrenzungen, technische Möglichkeiten, Fähigkeiten, die noch nicht entwickelt sind, eine Person noch nicht so dasteht, wie sie könnte, und vielleicht doch durch die Entwicklung, durch Neugier, durch Disziplin, harte Arbeit, sich Verschiedenes noch entwickeln könnte. Schauen Sie auch nach dieser Neugier, nach dem Intellekt, was aus dem Schüler noch werden könnte, wie beurteilen Sie das?
Boris Kuschnir: Ja, das ist etwas anderes. Ich erkenne, wie begabt ein junger Geiger oder eine junge Geigerin ist auch dann, wenn er oder sie schlecht spielt, wenn die Intonation oder die Haltung nicht in Ordnung oder die Interpretation uninteressant ist. Ich würde sagen, jeder sehr gute Lehrer sollte auch ein Talent haben, ein pädagogisches Talent. Vielleicht habe ich etwas von diesem Talent, und mit meiner Erfahrung kann ich die Probleme feststellen, mit denen die jungen Musiker konfrontiert sind, und meistens finde ich sofort die Antworten. Ich frage mich immer, wie kann ich diese Begabung entwickeln, wie kann ich helfen? Da erinnere ich mich daran, was der Bildhauer Rodin einmal gesagt hat. Er wurde einmal gefragt: „Wie machen Sie diese phantastischen Skulpturen?“ Er hat geantwortet: „Ich mache überhaupt nichts. Ich nehme einen Stein und ich versuche, alles, was nicht dazu gehört, wegzusternmen. Und so kommt automatisch die Figur heraus, ich habe sie eigentlich nicht gemacht.“ Und so versuche ich auch, in meiner Arbeit als Lehrer, das Talent von all dem zu befreien, was stört, alles wegzunehmen, was nicht zu diesem Talent gehört. Das ist natürlich oft eine Riesenarbeit.
Nikolaj Znaider: Jetzt eine andere Frage: wenn sie die künstlerische Entwicklung so eines jungen Menschen bestimmen, das ist eine große Verantwortung, denn der Lehrer möchte ja den jungen Künstler prägen und zwar möglichst positiv. Und wie wir wissen, gehört nicht nur Talent und Disziplin dazu, es ist auch eine psychologische Rolle, die sie im Leben so eines jungen Menschen spielen, das weiss ich auch aus unserem Verhältnis, wie gehen sie das an?
Boris Kuschnir: Es geht nicht nur um das Geigenspielen, die Haltung oder die Interpretation. Für manche junge Schüler spiele ich fast eine Vaterrolle, für viele bin ich ein Freund, für andere wie ein Arzt oder Berater. Oft erzählen mir meine Studenten über ihr Leben, über ihre Gefühle, ihr Glück oder ihre Probleme, und ich erzähle das nie jemandem weiter. Ich bin also für meine Schüler eine Vertrauensperson, ein Vertrauensverhältnis, das manchmal weit über die Studienzeit hinaus hält. Natürlich lerne ich auch selbst sehr viel von meinen Studenten.
Nikolaj Znaider: Sie sehen das also nicht als eine Belastung an, sondern vielmehr als eine Bereicherung.
Boris Kuschnir: Unbedingt, denn ich profitiere davon. Und ich möchte sagen, ich bin dadurch immer sehr jung geblieben, weil ich immer mit jungen Leuten, oder mit Problemen von jungen Leuten, zu tun habe. Es sind ja nicht immer nur Probleme, auch wenn sie glücklich sind, kommen sie zu mir und teilen dieses Glück mit mir, und ich teile auch mein Glück mit ihnen. Also das ist wechselseitig, und das muss so funktionieren zwischen guten Lehrern und ihren Schülern. Und noch etwas ist wichtig: Wenn ein sehr guter Lehrer wirklich groß ist, muss er immer seine Grenzen kennen. Wie weit soll er sich „einmischen“ – besonders, wenn es um die Interpretation geht – wenn er es mit begabten, sagen wir ruhig auch genialen Leuten zu tun hat. Natürlich wäre es leicht, das junge Talent mit meiner Autorität, mit meinem Charakter zu lenken, oder zu beeinflussen, der Student sagt dann sofort, ,ja o.k., ich spiele so, wie Sie sagen“. Das ist ein großer Fehler des Lehrers, weil oft genau in diesem Moment ein Talent unterdrückt wird. Der Lehrer muss dem Talent immer die Freiheit lassen, sich weiter zu entwickeln.
Nikolaj Znaider: Ich muss sagen, ich bin auch immer wieder beeindruckt, wie Sie nicht Ihre eigene persönliche Interpretation den Studenten aufdrücken, sondern nur immer wieder natürlich kritische Fragen stellen. Die Hauptsache ist ja, die Schüler zum Denken zu bringen. Jetzt hätte ich eine Frage, die eher generell ist. Es geht um die Philosophie des Geigenspiels. Was sehen Sie als die wichtigen Qualitäten eines großen Geigers? Was gehört dazu? Was braucht man?
Boris Kuschnir: Warum haben wir heute so viel sehr gute Geiger, aber so wenig große Geiger? Was unterscheidet die einen von den anderen? Ich hatte das Glück, so große Geiger wie Milstein, D. Oistrach, Kogan, Schering, Francescatti u.v.a. live im Konzert zu hören. Warum kann ich diese Konzerte nie vergessen? Natürlich hat mich die phänomenale Technik und Interpretation beeindruckt, aber auch heutzutage gibt es viele Geiger mit einer fantastischen Technik und mit außergewöhnlichen Interpretationen. Was mich aber damals fasziniert hat – und was heute leider fast verschwunden ist – das war die Tongebung, die Geiger haben damals „gesungen“! Ja, es geht um die Klangqualität! Mit seinem besonderen Ton kann der Geiger seine Gefiihle zeigen, seine Seele ausdrücken. Wenn ich das als Zuhörer nicht spüre, ist das Konzert fiir mich völlig wertlos.
Nikolaj Znaider: Und was, glauben Sie, braucht ein junger Mensch, um dorthin zu kommen, um ein großer Geiger zu werden? Was fordert das von einem Studenten?
Boris Kuschnir: Er braucht vieles, aber das Wichtigste ist, dass er echtes Talent hat die Fähigkeit, mit seinem Spiel das Publikum zu faszinieren.
Nikolaj Znaider: Sprechen wir über die Qualitäten die man braucht, um ein großer Geiger zu werden, nicht nur heute sondern überhaupt, Disziplin, gute Lehrer, eine gute Umgebung? Was sagen sie einem jungen Geiger oder Geigerin, der oder die diesen Artikel hier liest, was sind die Ziele die man suchen soll?
Boris Kuschnir: Der junge Musiker muss lernen, bei seinem Spiel immer Gefühle zu zeigen. Er muss sich für eine geigerische Karriere auch intellektuell entwickeln, also nicht nur Geige lernen, sondern auch Kammermusik, Klavierspielen, Partiturlesen, er muss ins Theater gehen, in die Oper, er muss sich vielseitig ausbilden. Er soll nicht nur körperlich gesund sein, sondern auch lernen, gesund und natürlich zu spielen. Der Geiger darf nicht nach jedem Konzert Schmerzen haben. Nach einiger Zeit können solche Schmerzen so groß sein, dass er überhaupt nicht mehr spielen kann. Da, finde ich, hat auch der Lehrer schlecht gearbeitet, denn der Lehrer muss auch – wie ein Arzt – dem Schüler rechtzeitig helfen, solche Probleme zu vermeiden. Er ist sehr viel notwendig, um ein großer Geiger zu sein. Schließlich finde ich, dass er auch ein guter Mensch sein soll, er soll sich mit positivem Denken beschäftigen und nicht schauen, aha, jemand spielt mehr Konzerte, ich spiele weniger, warum spielt der andere mehr – das nimmt eigentlich alles Zeit und Energie weg.
Nikolaj Znaider: Sie sprechen jetzt von Neid …
Boris Kuschnir: Von Neid, ja. Der Geiger soll wissen, dass er eine gute Ausbildung hat, eine gute Schule, einen guten Lehrer und – dass er Talent hat. Er soll ruhig so weitermachen, und dann kommt sicher seine glückliche Zeit. So habe ich alle meine Schüler orientiert, und viele von ihnen haben – als der richtige Zeitpunkt da war – auch verschiedene Wettbewerbe gewonnen, z. B. Julian Rachlin, Lidia Baieh, Dalibor Karvay, Alexandra Soumm (alle 1. Preisträger beim Eurovisionswettbewerb) oder Nikolaj Znaider, Gewinner des Königin-Elisabeth-Wettbewerbes in Brüssel.
Nikolaj Znaider: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sagen Sie also, Geduld ist auch eine Eigenschaft, die man braucht.
Boris Kuschnir: Ja, Geduld ist eine sehr wichtige Eigenschaft. Und die jungen Leute müssen auch genügend Selbstbewusstsein entwickeln. Es ist für sie auch sehr wichtig, eine Vertrauensperson zu haben. Und nicht nur die jungen Leute, auch erwachsene und bereits berühmte Musiker brauchen das. Viele bekannte Künstler haben mich ausgewählt als Vertrauensperson und mir vor wichtigen Konzerten oder Aufnahmen vorgespielt.
Nikolaj Znaider: Also jemanden, der ihnen die Wahrheit sagt.
Boris Kuschnir: Ja, ich habe keine Angst, jemandem die Wahrheit zu sagen, wenn dieser Mensch Wahrheit braucht. Es ist ja eine sehr interessante Situation, wenn wir sehen, beim Theater, bei großen Schauspielern, gibt es immer einen Regisseur, jemanden, der das Ganze ein bissehen leitet, und der nach der Vorstellung auch sagen kann, das hast Du gut gemacht, das war nicht so gut, usw. Aber bei Geigern, da bekommen junge Leute oft große Preise, und sie denken, ja, das ist jetzt die große Karriere, und sie spielen 200 Konzerte pro Jahr, aber sie merken nicht – weil es ihnen niemand wirklich sagt – , dass ihr Spiel langsam ein bissehen schmutzig wird, die Intonation, oder die Interpretation, oder die Haltung, niemand traut sich ihnen zu sagen, dass etwas nicht stimmt, dass sie aufpassen müssen. Und nach 10 Jahren kann es schon so weit sein, dass so ein sehr talentierter junger Mensch auf einmal nicht mehr so gut spielt. Aber er merkt es nicht. Das Publikum merkt es aber sehr wohl. Und nach 20 Jahren merken es dann schon alle, auch der Künstler selber merkt, dass irgend etwas nicht mehr stimmt. Aber da ist es dann oft schon zu spät, noch etwas dagegen zu tun. Einmal hat mich nach dem Konzert ein berühmter Geiger nach meiner Meinung über sein Spiel gefragt. Ich habe ihm meine kritischen Bemerkungen mitgeteilt, und dann fragte er mich, ob ich wirklich all diese Feinheiten gehört hätte. Ich antwortete, ja natürlich. Darauf sagte er: „Ich muss sofort üben gehen.“
Nikolaj Znaider: Und das ist eigentlich ein großes Geschenk, so jemanden zu haben, der einem die Wahrheit sagt. – Sprechen wir jetzt noch weiter über das heutige, das moderne Geigenspiel. Sie haben schon ein wenig Ihre Meinung darüber geäußert. Können Sie uns sagen: Wie sehen Sie die heutige geigerische Entwicklung, und wo würden Sie gerne sehen, dass es hingeht? In welche Richtung?
Boris Kuschnir: Also ich sehe die Lage heute so: Entscheidend für die Konzerttätigkeit sind heute zwei Dinge. Das eine ist, jemand muss einen großen Wettbewerb gewinnen, dann hat er eine Chance, eine Solokarriere zu machen. Das andere ist, jemand spielt einem – oder mehreren – Dirigenten vor, und dieser Dirigent oder diese Dirigenten helfen dem jungen Geiger, eine Solokarriere zu machen. Und so hört das Publikum heute sehr oft technisch sehr gute Geiger, die aber keine großen Geiger sind. Es sind professionelle Musiker, die können ein Paganini-Konzert gut spielen, ohne große Fehler, oder noch andere schwierige Werke, aber Musiker, große Musiker, die Klangqualität haben, Intellektualität, die Gefühle ausdrücken, gibt es sehr wenig.
Nikolaj Znaider: Also, Sie sehen eine Gefahr, dass sich das breite Publikum an Mittelmäßigkeit gewöhnen wird?
Boris Kuschnir: Richtig. Da gibt es dieses schöne Märchen von Andersen, „Des Kaisers neue Kleider“. Das ist ein sehr schönes Beispiel. Der Kaiser war ohne Kleider, aber alle haben gesagt, er hat Kleidung, und zwar wunderschöne Kleidung. Aber er hatte nichts an! Und in Konzerten haben wir heute oft eine ähnliche Situation. Jemand spielt, und ich höre, es ist kein großer Geiger, es ist kein großer Musiker, „keine Kleider“, kein großes Talent. Und das Publikum geht ins Konzert, ein Mal, zwei Mal, vielleicht drei Mal, und dann kommen die Leute nicht mehr. Warum?
Ja, das ist für mich genug, sagen die Leute. Wir verlieren ständig Publikum in klassischen Konzerten, und der Grund dafür ist oft die Mittelmäßigkeit.
Nikolaj Znaider: Herr Prof. Kuschnir, Sie haben in den 80er und 90er Jahren, und heute immer noch, in verschiedenen Kammermusikensembles gespielt. Inwiefern halten Sie das für notwendig für Ihre Unterrichtstätigkeit? Sie haben ja in dieser Zeit Ihren Namen als Violinpädagoge aufgebaut, aber trotzdem haben Sie diese Seite als ausübender Künstler rue aufgegeben. Wie wichtig ist das für Sie?
Boris Kuschnir: Ich denke, dass es für meine pädagogische Arbeit auch sehr wichtig ist, wenn meine Schüler sehen, dass ich auch selber spiele. Ich versuche natürlich das, was ich unterrichte, auch in meinem Spiel zu zeigen. Und ich habe mich entschieden, mein künstlerisches Leben in Kammermusik: und Unterricht zu teilen. Auch heute spiele gerne mit dem Wiener Brahms Trio und dem Kopelman Streichquartett. Meine künstlerische Tätigkeit hat sehr starken Einfluss auf meine pädagogische Arbeit. Schon über 15 Jahre habe das Glück, dass mir die Oesterreicrnsche Nationalbank eine wunderbare Stradivari-Violine zur Verfügung stellt. Und das ist nicht nur deshalb ein Glück, weil ich auf diesem Instrument sehr schöne Musik: spielen kann, sondern auch, weil ich damit in meinem Unterricht sehr viele Farbrichtungen und viele Klangmöglichkeiten zeigen kann.
Nikolaj Znaider: Und welche Richtung würden Sie jetzt am liebsten sehen? Wenn dajetzt die Boris-Kuschnir Wunschbox wäre, wie würden Sie es denn am liebsten haben?
Boris Kuschnir: Ich denke an die Musik:. Und ich sehe da zwei sehr wichtige Richtungen, die zusammen gehören, die künstlerische und die pädagogische. In bei den wünsche ich mir höchste Professionalität, Ehrlichkeit und echte Gefuhle. Das alles zusammen macht die Musik und unser Leben viel schöner und glücklicher.
Nikolaj Znaider: Herr Professor Kuschnir, Sie erlauben mir einen persönlichen Kommentar am Ende dieses Interviews. Ich bewundere Sie und bin glücklich, dass Sie so viel Leidenschaft haben fur Ihren Beruf, und ich wünsche Ihnen in Ihrem Kampf gegen die Mittelmäßigkeit nur das Aller-, Allerbeste. Und zu Ihrem 60. Geburtstag, wünsche ich Ihnen noch viele, viele Jahre und viel Erfolg und danke Ihnen sehr fur alles, was Sie fur mich und fur viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler gemacht haben und was Sie uns gegeben haben, und wir möchten das auch als Musiker hinaustragen in die Welt. Danke fur alles, und danke fur das Gespräch.
Boris Kuschnir: … und ich möchte gerne meinen Schülern dafür danken, dass sie mich als ihren Lehrer gewählt haben. Ich hab sehr viel von ihnen gelernt und lerne noch immer von ihnen. Ohne sie wäre mein Leben viel weniger interessant verlaufen.
Danke schön. Und ich möchte auch allen meinen Schülern vielen Dank dafür sagen, dass Sie mich als Lehrer ausgewählt haben. Ich habe von ihnen sehr viel gelernt und ich lerne weiter, und das ist fur mich, fur mein Leben, eine Bereicherung. Ohne Euch alle wäre mein Leben etwas ganz anderes und viel weniger interessant. Vielen Dank!