Musikverein, 2003

Gedanken-Striche

Der Geiger Nikolaj Znaider

„Bravo!“ Eine Plattenfirma, die eine neue CD so benennt, muß entweder Mut haben oder Vertrauen. Wie sonst könnte sie mit der Ankündigung gleich das Urteil vorwegnehmen: „Bravo!“ Im vorliegenden Fall freilich ist Mut nicht erforderlich und jedes Vertrauen gerechtfertigt. Denn Nikolaj Znaider, der Solist dieser Aufnahme mit virtuosen Encores, verdient ohne Zweifel „Bravos“ in jeder erdenklichen Lautstärke.

„Bravo!“ Daß die Plattenfirma das Ausrufezeichen gleich zum Markenzeichen macht, geht also ganz in Ordnung. Allerdings ist Nikolaj Znaider – so grandios er auch spielt – kein Geiger, der seine Kunst mit Exklamation zu Markte trägt. In seiner Sprache dominieren andere Satzzeichen. Da gibt es Platz für Fragezeichen, Raum für Gedankenstriche. Der Gedankenstrich, könnte man sagen, paßt vielleicht am besten zu ihm, auch weil es im Doppelsinn eine treffende Metapher sein könnte. Wenn er den Bogen führt, setzt er tief im Geistigen an. Gedanken. Striche. Gedanken-Striche.

Was braucht der Mensch?

Mehr als 100 Auftritte hat er derzeit pro Jahr, reihum Konzerte an ersten Adressen: Chicago, New York, Cleveland, Philadelphia, London, München, Amsterdam, St. Petersburg, immer mit den besten Orchestern, immer mit herausragenden Dirigenten. Ein Terminkalender, randvoll mit erlesenen Projekten. Trotzdem muß für Znaider auch Zeit zum Lesen bleiben. „Man darf nicht stehenbleiben, man muß sich intellektuell weiterentwickeln“, sagt der 28jährige und erzählt von dem Buch, das ihn gerade beschäftigt: „Waiden“, der Essay-Zyklus des „Aussteigers“ Henry David Thoreau. „Das war einer der großen politischen Denker Amerikas, der mit seiner Schrift ,Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‘ einer der wichtigsten Vorläufer von Gandhi und Martin Luther King wurde. Und was Thoreau vor allem interessierte, als er sich Mitte des 19. Jahrhunderts in eine primitive Blockhütte am Waiden Pond in Massachusetts zurückzog, das war die Frage nach den ,bare necessities of men‘, den wirklichen Lebensbedürfnissen der Menschen, auch sprirituell … “

Die richtigen Fragen stellen

Es mag ein Zufall sein, daß dieses Buch in Znaiders Reisegepäck gerade obenauf liegt. Aber die Grundfrage, die er aus der Lektüre aufgreift, ist doch sehr bezeichnend für ihn. Denn um die „necessities“ geht es auch ihm, um das Wesentliche und Eigentliche. Gedankenstriche. Fragezeichen. Aber Fragezeichen hinter den wichtigen Fragen. „Was mich in New York an der Juilliard School gestört hat, das war die Frage, die alle meine Mitschüler gestellt haben: Wie mache ich Karriere? Aber ich habe niemanden über Musik sprech~n g~hört. Und das hat mich irrsinnig gestört. Denn meine Philosophie ist: Der Fokus muß auf der Musik liegen. Und die Karriere kann davon nur eine Nebenwirkung sein.“

Die richtigen Fragen zu stellen und darauf Antworten zu suchen: das brachte ihn 1994 nach Wien. „Und hier, bei Professor Kuschnir, bin ich absolut richtig gelandet“, sagt Znaider. In Wien angekommen, ging der junge Geiger nochmals ganz zurück — zurück zu den „bare necessities“ des Geigenspiels. Wochenlang spielte er nur auf leeren Saiten, arbeitete an der Basis der Bogentechnik, übte in Gedanken Striche.

Von Grund auf

Gedankenstrich. Auch diese elementaren Strichübungen zeigen ganz deutlich, welche Gedanken sich Nikolaj Znaider zu seiner Kunst macht. Denn dem äußeren Anschein nach war damals alles bestens. Schon mit 17 hatte Znaider den Ersten Preis des Internationalen Carl-Nielsen-Wettbwerbs gewonnen und jede Menge Engagements in Skandinavien. 1992, noch im sei ben Jahr, verließ er als „Shooting Star“ seine Heimatstadt Kopenhagen und inskribierte bei Dorothee DeLay an der New Yorker Juilliard School. Eine erste Adresse – was hätte daran falsch sein sollen?

Doch Znaider hatte das Gefühl, daß ihm auch geigerisch etwas fehlte. Dann hörte er Julian Rachlin. „Und bei Julian habe ich bemerkt, daß es da einige Sachen gibt, die einfach irrsinnig gut gelernt sind. Wir können ruhig ,Schule‘ sagen. Und diese Schule hat mich interessiert. So bin ich zu Julians Lehrer nach Wien gefahren, habe ihm vorgespielt — und so hat’s angefangen. “ Es war, wie gesagt, ein Neuanfang von Grund auf. „Beim Hausbau ist es klar und logisch, und kein Mensch würde auf die Idee kommen, mit dem Dach oder mit irgendwelchen Stuck-Ornamenten anzufangen.

Aber bei der Musik ist es oft so, daß das Fundament übersprungen wird.“ So war denn Basisarbeit angesagt, Grundlektionen saitenweise. Fast ein Jahr lang studierte Znaider nur das Saint-Saens-Konzert. „In diesem Konzert steckt eigentlich alles, was man fürs Geigenrepertoire braucht. Und wenn wir an eine Stelle kamen, wo ich einen Strich nicht wirklich beherrschte, dann haben wir ein, zwei Wochen daran gearbeitet, nur diesen Strich zu finden.“ Kuschnir erwies sich nicht nur als der denkbar beste Lehrer in dieser Elementarschule für Arrivierte. Er war auch ein idealer Partner, als es dann um künstlerische Fragen ging. „Er hat mir nie seine Interpretation aufgedrängt“, sagt Znaider, „er hat mich immer herausgefordert, meine eigene Interpretation darzubieten. Und auch das war toll an diesem Unterricht. “

Zeit lassen

Fundament, Mauerwerk, Giebel. Nach drei Jahren war der Dachfirst erreicht, und das in höchster Höhe. Nikolaj Znaider gewann den Concours Reine Elisabeth in Belgien, einen der anspruchsvollsten Wettbewerbe der internationalen Musikszene. Und damit begann — ein schöner, unausbleiblicher Nebeneffekt — nun wirklich die große Karriere.

Eigentlich, meint Znaider, sei er damit ziemlich spät dran gewesen. „Eine Karriere — ich hasse dieses Wort –, eine Karriere mit 21 zu beginnen, das ist heutzutage spät. Aber ich bin froh darüber. Für meine Lebensvorstellung ist bis jetzt alles zum richtigen Zeitpunkt gekommen.“ Spät hat er auch mit dem Geigenspiel begonnen, nämlich erst mit sieben. Musik war im Elternhaus von Nikolaj Znaider Teil eines umfassenden, auf den ganzen Menschen angelegten Erziehungskonzepts. „Meine Eltern haben uns ins Museum mitgenommen, uns jede nur erdenkliche Anregung gegeben. Und so fanden sie auch, daß es gut und wichtig wäre, ein Instrument zu lernen.“

Professionelle Ambitionen gab es keine. Znaiders Eltern haben beruflich nichts mit Musik zu tun — „allerdings war mein Vater“, wie Nikolaj Znaider schmunzelnd erzählt, „in Polen, wo er aufgewachsen ist, mal Leadsänger einer Rockband. Nicht schlecht, muß ich sagen, die Band trat sogar im Fernsehen auf.“ Wenn er freilich an die Photos im Familienarchiv denkt, mischt sich Amüsement in die Bewunderung: Der Vater als Reserve-Rolling-Stone mit dem Mikro in der Hand – das sei schon auch „ein bißchen komisch“.

Nicht stagnieren

Nikolaj schlug einen anderen Weg ein und griff mit sieben zur Geige. Zehn Minuten sollte er täglich üben, das war der Hauptparagraph des familiär fixierten Anfänger-Vertrags. „Trotzdem“, erzählt Znaider, „habe ich immer versucht zu verhandeln: Können wir nicht auf fünf Minuten runterkommen? Dann kann ich schneller raus zum Fußballspielen.“

Ein Jahr später kam dann der Motivationsschub, der bis heute anhielt. „Ich sah Itzhak Perl man im Fernsehen und wollte von da an nichts anderes, als mit der Geige aufzutreten. Meinem Lehrer hab‘ ich erklärt: ,Ich möchte Weltmeister im Geigespielen werden‘ — als ob das was wäre wie Fußball. Natürlich habe ich noch nicht verstanden, worum es wirklich ging. Aber der Wunsch und der Wille waren da. Merkwürdig“, meint Znaider nachdenklich, „wie ein Achtjähriger eine solche Entscheidung treffen kann.“

Daß diese Entscheidung aus freien Stücken kam, daß er zu nichts gezwungen wurde, auch damals, in jungen Jahren nicht – das ist eine prägende Grunderfahrung für Nikolaj Znaiders künstlerisches Selbstverständnis. Zwang und Disziplin sind zweierlei. Erzwingen kann man nichts, schon gar nicht in der Kunst. Aber ohne Disziplin und Fleiß, ohne ständige Arbeit an sich selbst und ohne geistige Offenheit erstarrt die Kunst zum Kunstgewerbe. „Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar“, sagt Nikolaj Znaider, „daß sie mir gezeigt haben, daß man sich immer weiter entwickeln muß. Es ist so leicht zu stagnieren. Man darf nicht mit Scheuklappen durchs Leben gehen, man soll offen sein für alles, was einen anregen kann: das kann ein Konzert sein, eine Begegnung mit Menschen, ein schönes Essen, ein gutes Buch … “

Znaider oder die Kunst des Bogenspannens

Im Musikverein ist Znaider schon verschiedentlich aufgetreten — 2001 mit dem Jerusalem Symphony Orchestra und dem Violinkonzert von Glasunow, das er inzwischen auch mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Mariss Jansons auf CD eingespielt hat; 2002 als bravouröser Einspringer bei Schumanns Klavierquintett, gemeinsam mit dem „Brahms Trio“ seines Lehrers Boris Kuschnir und dem Bratschisten Yuri Bashmet. Wenn er nun, am 10. und 11. Mai, mit dem Sibelius-Konzert wieder in den Musikverein kommt, wird dies zugleich sein Debüt mit den Wiener Symphonikern sein. Den Mann am Pult kennt er schon bestens. „Marcello“, sagt Znaider über Maestro Viotti, „ist ein phantastischer Dirigent, wirklich hervorragend!“ Die bei den haben gemeinsam beim New York Philharmonic Orchestra debütiert, nun trifft man sich mit Freuden wieder in Wien.

Was schließlich das Werk des Abends angeht, handelt es sich um jenes Konzert, das Znaider „wohl schon am öftesten gespielt“ hat. „Ich war schon immer von diesem Sibelius-Konzert fasziniert, es hat eine solche Urkraft! Und ich stelle mir vor“, sagt Nikolaj Znaider, „daß es aus einem einzigen Felsblock gehauen worden ist, alle drei Sätze. Und die Verbindung zwischen den Sätzen zu bewahren, das ist die große Herausforderung bei diesem Werk.“

Beim Violinkonzert von earl Nielsen, das Nikolaj Znaider erst im Herbst bei einem „Jeunesse“-Konzert mit der Königlichen Kapelle Kopenhagen im Musikverein gespielt hat, ist diese Herausforderung vielleicht noch größer, die Aufgabe, auch über zerklüftete Strukturen hinweg das Große und Ganze im Sinn zu behalten, noch schwieriger. Znaider hat sie mit unglaublicher Souveränität gemeistert. Nielsens komplexe Musik erstrahlte wie aus einem Guß, das sonst so spröde Melos mutierte zur unendlichen Melodie.

Znaider oder die Kunst des Bogenspannens. Musikalisch reichte der Bogen vom ersten bis zum letzten Takt des schwierigen Werks. Und bei den Bogenwechseln war nicht das kleinste Ansatzgeräusch zu hören, alles nahtlos, legatissimo. Wie ist das möglich? „Ganz einfach“, gibt Nikolaj Znaider nach einem Gedankenstrich zu verstehen, „das sind die leeren Saiten, mit denen ich in Wien wieder angefangen hab‘ … “

Joachim Reiber

Dr. Joachim Reiber ist Redakteur der Zeitschrift „Musikfreunde“ und der Programmhefte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.

Ausgabe Mai/Juni 2003

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