Der Standard
Klänge aus der „Solistenfabrik“
Geiger Julian Rachlin und sein Lehrer Boris Kuschnir gastieren am Freitag im Konzerthaus
„Erinnerst du dich noch, damals, beim Flug nach Japan — da spielten wir beide im Cockpit?“ Julian Rachlin rätselt höflich: „Kann mich eher nur vage erinnern.“ Boris Kuschnir hilft: „1993, der Kapitän hatte auf Autopilot geschaltet, er hörte, dass ich eine Stradivari spiele und lud uns ein …“ Rachlins Flucht ins Kompliment: „Eher nur vage Erinnerung, leider. Sie haben einfach ein besseres Gedächtnis als ich!“ Der Scherz kommt retour: „Stimmt nicht! Ich fliege bloß nicht so oft wie du erste Klasse!“
Da hat Boris Kuschnir wahrscheinlich Recht. Und er selbst trägt gerne sehr viel Schuld daran. Als Rachlin acht war, hat er begonnen, ihn zu unterrichten, und so mitgeholfen, dass Rachlin nun seit Jahren eine internationale Karriere absolvieren kann, die ihn 180 Tage im Jahr unterwegs sein lässt — „meistens alleine, um all diese großen Konzerte zu absolvieren“.
Kuschnir, der eher „langsam und zufällig“ zu unterrichten begonnen hat, verdankt Rachlin im Gegenzug seine hohe Reputation als Geigenpädagoge und damit eine Menge talentierter Schüler. „Mir ist es gelungen, ihn zur Entfaltung zu bringen; ihm ist es gelungen, aus mir einen guten Lehrer zu machen, zu dem Talente kommen. So bleibt es spannend. Denn wenn einer wie Rachlin weggeht, fragt man sich schon: Was mach ich jetzt?“, meint Kuschnir. „Ich habe wahrscheinlich doch ein Gefühl für Talente. Da braucht es nicht viel. Wenn ich nur eine Note höre, die gut ist, dann weiß ich eigentlich: So jemand kann es schaffen — auch wenn das dann Jahre dauert.“
Kann er voraussagen, wer Solist wird und wer Orchestermusiker? „Schon. Es gibt da aber Fehler bei Institutionen. Man sagt heute gerne, es gäbe keinen Orchestermusiker-Nachwuchs, also muss man ihn von klein auf heranerziehen. Das ist katastrophal! Man kann Kinder nicht zu Orchestermusikern erziehen, man kann aus ihnen nur Musiker machen. So mit 18 können sie dann selbst entscheiden, was sie werden wollen. Wenn man es von Anfang an in die Orchesterrolle zwingt, wird es das Kind nie schaffen. Man bildet so nur schlechte Profis heran.“
Bei Julian sei es schnell gegangen. „Ich musste die Informationen nie wiederholen, er hat alles sofort aufgenommen. Interpretatorisch? Das habe ich gelassen! Er ist ein phänomenales Talent, ich nicht. Ich konnte nur die Grundlagen vermitteln, denn er spielt ja, wie ich gerne spielen wollte, aber nicht konnte.“ Auf die Uhr, ergänzt Rachlin, hätte man nie geschaut, und er meint damit nicht die Tatsache, dass „ich von ihm auch gelernt habe, unpünktlich zu sein“. Nein, „all die Stunden, die wir gearbeitet haben — wenn man das hätte bezahlen müssen …“
„Gott sei Dank sind alle meine Schüler ein bisschen verrückt. So wie ich“, so Kuschnir, der einst aus Kiew nach Österreich kam und in Wien und in Graz unterrichtet. Aber auch Solisten kommen bei Kuschnir — auch Lidia Baich stammt aus seiner Solistenschmiede — um das disziplinierte Kammermusikspiel nicht herum. Und so ist vielleicht auch der heutige Kammermusikabend im Konzerthaus, den sich Rachlin gewünscht hat, eine Folge der Kuschnir-Erfahrungen.
Die Frage, ob, wenn Schüler und Lehrer zusammenspielen, die alte Rollenverteilung dominiert, stellt sich schon. Kuschnir antwortet als Erster: „Er spielte früher die zweite Geige, ich spiele jetzt die zweite. Früher habe ich geführt, jetzt führt er. Normalerweise verwies ich ihn auf Fehler, jetzt ist es umgekehrt. Er ist fantastisch!“ Rachlin, vorsichtig bis verlegen: „Wenn Sie das sagen …“
Ljusiba Tosic, Der Standard, Print-Ausgabe, 26. 4. 2004